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Hautgespräche – eine Geschichte

– Die ist nichts für dich.

– Das kannst du doch gar nicht wissen.

– Denkst du!

– Ja, denke ich. Man sollte nicht so schnell urteilen.

– Schnell? Du kennst sie jetzt seit einem halben Jahr.

– …

Die Fingerspitzen kribbeln. Die Nackenhaare stellen sich auf. Ein Schauer kriecht von der Fußsohle über die Achillesferse die Waden hinauf, um sich in der Kniekehle zu manifestieren. Um dort zu bleiben. Fest zu sitzen. Wie auf den Fingerspitzen das Kribbeln.

– Siehst du, wie sie ständig hin und her rutscht und zittert?

– Vielleicht ist sie einfach etwas nervös, wenn wir zusammen sind.

– Vielleicht. Vielleicht säuft sie auch deshalb ständig. Ich habe das Gefühl, sie trifft sich nur mit uns, um zu trinken.

– Das stimmt doch gar nicht.

– Ach, nein? Wann war sie das letzte Mal nüchtern?

– Vorgestern. Da waren wir Eis essen. Weißt du das nicht mehr?

– Und was lag auf ihrem Beifahrersitz, als sie dich abgeholt hat?

– Du meinst den Piccolo? Der liegt da wahrscheinlich schon ewig rum.

– Ja – klar.

– …
Das Kribbeln nimmt zu. Die Fingerspitzen sind schon ganz taub. Die Kniekehle auch. Druck entsteht. Es erinnert mich an die Dämmerung, wenn die Sonne ihre Strahlen über den Horizont drückt und die Wärme beginnt, sich in alle Richtungen auszubreiten. Nur ist es nicht so schön. Vielmehr unschön. Unangenehm. Es drückt.

– Nicht der auch noch.

– Gibt es eigentlich auch jemanden, an dem du nichts auszusetzen hast?

– Hättest du jemanden anzubieten, für den man seine Ansprüche nicht ins Minus drehen muss?

– Ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Und er versteht sich gut mit ihr. Ist das nichts wert?

– Du machst vergangene Zeit also zu einem Qualitätsmerkmal?

– Und du würdest deinen Sandkastenkumpel mit verbundenen Augen über die Planke schicken.

– Nur wenn er mich verrückt macht. So wie der Typ. Wie kann man nur so etwas von sich geben?

– Er ist ein bisschen provokant, aber …

– Provokant ist gut. Ihr Alkoholproblem ist dagegen fast harmlos.

– Ich teile seine Ansichten nicht, aber er war immer nett.

– So, so. Aber was, wenn ich dir sage, dass er nicht in unser Leben passt?

– …

Die Strahlen aus dem Knie strömen bereits bis in die Hüfte. Sie schmerzt. Sitzen ist eine Qual. Die Fingerspitzen fühlen nichts. Der Tastsinn ist ausgeschaltet. Nur eines ist noch da: Die innere Hitze. Die innere Sonne versengt mich. Die Fingerkuppen spannen, als würden sie gleich platzen.

– Es sind die Dinge, die sie übertragen.

– Du redest wirres Zeug. Komm auf den Punkt.

– Sie hat Probleme. Mächtige Probleme. Und da spreche ich nicht nur von dem Piccolo auf ihrem Beifahrersitz. Und von ihm sollte ich besser gar nicht erst anfangen. Wer sich selbst erst dann gut fühlt, wenn andere Menschen am Boden liegen, tut uns nicht gut. Dabei sind seine Probleme noch viel größer als ihre.

– Aber sollte man ihnen nicht helfen?

– Du kannst sie nicht alle retten. Du musst zusehen, wo du bleibst. Oh, sieh mal, dort drüben.

– Sie ist wirklich selten hier.

– Ja, das ist ein gutes Zeichen.

– …

Sei das Eis für meine Hitze. Lege deine kalten Finger wie einen wohltuenden Handschuh um meine. Diese Ruhe. Diese Gelassenheit. Nichts löscht den Brand besser als Einheit. Ruhe statt Konflikt. Stillstand, statt Bewegung und sich doch näherkommen.

– Sie tut uns gut.

– Ja, da sind wir endlich mal einer Meinung.

– Und was werden wir mit den anderen tun?

– Was würdest du tun?

– Ich schreie dich förmlich an. Aber du hörst mich nicht. Ich bin nicht nur deine innere Stimme. Ich bin mehr. Und das weißt du.

– Das weiß ich. Schließlich sehe ich dich jeden Tag. Gut, wir gehen.

– …

Wenn der Arm um deine Schulter die Sonne zu einem Teelicht schrumpft. Wenn das Gefühl, dass dich durchflutet, den inneren Streit erstickt. Dann, aber nur dann, hört die Haut auf zu reden.

Fotocredit: George Mayer/Adobe Stock

Autorin, Kurzgeschichtenschreiberin, Senior Accountant Managerin in einer Werbeagentur