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boden aus eis

Der Boden aus Eis

Noch ist der langersehnte Frühling nicht wirklich in Sicht. Ab und an kann man einen Hauch schon davon erkennen. Schnee, Eis und Dunkelheit bestimmen in weiten Teilen des Landes immer noch den Tag. Die Sehnsucht nach Frühling ist ungebrochenen, sie drängt in mir immer mehr nach oben. 

Ich schließe meine Augen und dann kann ich ihn spüren: den Frühling. Ich atme die frische klare Luft tief ein, nehme den Duft des Frühlings wahr. Wenn ich den Kopf hebe, spüre ich das warme Sonnenlicht auf meiner Haut. Meine Füße finden festen Halt auf dem weichen Waldboden, der mich sicher trägt. Ich schreite sicher und zügig über den Waldboden. Mit jedem Schritt höre ich es rascheln und knacken, ein betörender Duft nach Wald steigt auf.  Ich höre die Vögel zwitschern und sehe die weißen Wolken am blauen Himmel ziehen. Das Leben ist herrlich, ich fühle mich sicher und getragen und freue mich auf die Verheißungen der warmen Jahreszeit. Die Gefühle sind so überwältigend, ich fühle mich leicht, beschwingt und voller Hoffnung und sehne die kommenden Wochen und Monate herbei. Die Fülle des Lebens eröffnet sich mir in voller Pracht, die Zukunft erscheint strahlend und hell. Ich möchte ihr entgegenfliegen, so erwartungsvoll fühle ich mich. Den Winter mit seinen dunklen Tagen, der Kälte, dem Eis und all dem Ungemach, den lasse ich jetzt hinter mir. Es hat keine Bedeutung mehr für mich, ich will es einfach nur noch abschütteln. Alles was zählt, ist der Frühling mit seinen Freuden, nur ihn will ich in meinem Leben begrüßen. Ich will laut lachend über den weichen Waldboden rennen, die Arme ausbreiten und das Leben begrüßen. Ich eile dem Sommer entgegen mit seinen langen warmen Tagen, dem wärmenden Sonnenlicht, den Feiern und Festen und fühle mich leicht und beschwingt. Mein Leben ist hell, leicht und ich blicke in eine strahlende Zukunft. 

Dann öffne ich die Augen und finde mich in meiner Wohnung im Arbeitszimmer wieder. Es ist mitten in der Nacht, der Schmerz hat mich aus dem Bett getrieben. Ich schaue auf die Uhr, es ist drei Uhr in der Nacht. Es ist ruhig, alle schlafen und man hört nichts. Nicht einmal ein Auto, welches noch spät unterwegs ist. Gefühlt bin nur ich noch wach. Ich habe unerträgliche Schmerzen, bin voller Schmerz, Wut und Angst. Wut darüber, dass ich schon wieder hier sitze. Voller Angst, weil ich nicht verstehe, warum es jetzt schon wieder passiert ist. Ich verstehe es einfach nicht. Als ich zu Bett ging, war doch alles okay, alles wie immer. Was passiert jetzt gerade mit mir und warum????

Eine eiskalte Hand greift nach meinem Herz und eine Stimme in mir flüstert: jetzt geschieht es wieder, es wird dich wieder, wie schon so oft, in den Griff nehmen und dir dein Leben nehmen, was du dir so mühsam erkämpft hast. All das, was du dir für den kommenden Tag vorgenommen hast, schaffst du nicht. Warum strengst du dich überhaupt an, es hat doch eh keinen Zweck. So oft schon hast du dies erlebt, jetzt schon wieder. Gib einfach auf und akzeptiere, dass du dein altes Leben verloren hast. Jetzt ist für dich der ewige Winter dran, mit Dunkelheit, Kälte und Eis. Ziehe dich zurück und akzeptiere es. Es lohnt sich einfach nicht, dagegen anzukämpfen. 

Die Tränen rollen unaufhörlich über mein Gesicht, während die Gefühle in mir Achterbahn fahren. Ich bin müde, todmüde und will einfach nur schlafen. Ich habe überhaupt keine Lust mehr, mich mit Schmerz, Angst und Wut zu befassen. Ich will nur noch meine Ruhe und sehne mich nach Ruhe, Frieden und Beständigkeit. Ich will über festen, trockenen Boden gehen und mich sicher und getragen fühlen.

Doch wenn ich hinabblicke, sehe ich nicht den festen und sicheren Waldboden, sondern einen Boden aus Eis. An einigen Stellen ist er schneebedeckt, so dass ich nicht sehen kann, wie dick das Eis unter der Schneeschicht ist. An einigen Stellen scheint es dick und fest zu sein. Es erweckt den Eindruck, als könnte es dort an dieser Stelle einen Elefanten tragen. Am Rande ist das Eis geschmolzen, das Wasser blubbert schon um den Eisrand. Wehe dem, der an diese Stelle des Eises tritt, er wird mit Sicherheit einbrechen und im eiskalten Wasser landen. Mich schaudert bei diesem Gedanken. An anderer Stelle ist das Eis schneefrei und recht dick und man kann in die Tiefe sehen. Das Wasser darunter erscheint unergründlich, man sieht eine Wasserpflanze, die im Eis erstarrt ist. Irgendwie faszinierend und ein bisschen unheimlich. Die weite Eisfläche, die ich vor mir sehe, hat so vieles: sie hat Flächen, die dick sind und sicher tragen und wo man das auch sehen kann. An anderer Stelle ist nur Schnee zu sehen. Wer weiß, was sich darunter verbirgt. Am Rand schon schmilzt das Eis an einigen Stellen. Ich muss ans Ende der Eisfläche gelangen, einen anderen Weg gibt es nicht. Ich bleibe zögernd stehen, weil ich ein bisschen Angst habe. Alles in mir wehrt sich, ich möchte nicht über das Eis gehen, ich will nur einen Weg über einen festen, mich tragenden Boden gehen. Doch den gibt es nicht, mir bleibt nur die Wahl zwischen stehen bleiben und mir einen Weg über die Eisfläche suchen. 

Nach einigem Zögern mache ich mich auf den Weg über das Eis. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die Eisfläche. Ich höre ein leises Knacken, mich beschleicht die Angst. Langsam belaste ich meinen Fuß und siehe da: das Eis trägt mich. Erst zögernd, dann immer mutiger setze ich einen Fuß vor den anderen und langsam schreite ich voran. Ich habe ein bisschen Angst, aber nach einer Weile habe ich mich an das Gefühl gewöhnt, über Eis zu gehen. Das leise Knacken, was ich ab und an höre, ängstigt mich nicht sofort zu Tode. Ich versuche es einzuordnen: ist es ein „freundliches“ oder ein „bedrohliches“ Knacken? Droht es von Unheil, oder ist es nur so ein Geräusch? Nach einer Weile meine ich, die Geräusche einordnen zu können. Ich werde mutiger, straffe mich, beginne schneller zu gehen. Fast schon genieße ich das Gefühl, ich schlittere ein wenig und freue mich über die Schneekristalle auf dem Eis. Hatte ich vor wenigen Minuten noch Angst, über das Eis zu gehen??? Lächerlich, ich doch nicht, das war doch nur ein leises grummeln im Bauch, mehr nicht. Angst, was ist schon Angst, die kenne ich nicht mehr, die habe ich aus meinem Leben vertrieben. Die Angst, die Wut und den Schmerz und den ganzen Kram von Krankheit und so, die will ich nicht mehr. Ich lasse sie einfach zurück und begebe mich auf den Weg über das Eis. Alles, was mir geschehen ist, das lasse ich hinter mir. Lächerlich, wer denkt, es gehört zu mir und begleitet mich für immer. Bei mir ist es nicht so, dass weiß ich sicher. Gestärkt von diesem Gedanken werde ich auf meinem Weg über das Eis immer schneller. Geht doch prima denke ich und fange an, mich zuversichtlicher zu fühlen. Ein kleines Liedchen findet den Weg auf meine Lippen und so singe ich ein wenig vor mich hin. 

Mein Blick schweift umher und dann passiert es: ich trete auf eine Stelle und plötzlich breche ich mit einem Bein in das eiskalte Wasser. Ich bin zu Tode erschrocken, mir bleibt die Luft weg und ich erstarre förmlich. Panisch sehe ich mich um, ich bin alleine, niemand ist da der mir hilft. Die Kälte des Wassers ergreift mich nun mit voller Wucht und ich fühle, wie ich unter Wasser gerate. Einen Moment halte ich ein und resigniere fast. Was lohnt sich schon das Kämpfen, wo mein Weg über das Eis doch noch so weit ist. Wer weiß, was mir unterwegs noch begegnet und wie oft ich vielleicht noch einbrechen werde? Wer wird mir auf meinem Weg über das Eis begegnen? Ist es Freund oder ist es ein Feind? Werde ich gute Begegnungen haben oder werde ich wieder Schlimmes erleben? Ich habe Angst, fühle mich alleine und verzweifelt. Ist es nicht besser, hier und jetzt aufzugeben? Dann kann man sich den Rest gleich ersparen, der wahrscheinlich nichts Gutes bringt. Wut steigt in mir hoch und ich möchte es in die Welt schreien: was ist passiert, dass es immer wieder MICH trifft? Warum zum Teufel, bin ich in dieses verdammte Loch getreten? Ich möchte Gott und die Welt anschreien und ich fange an zu heulen über die Ungerechtigkeit, die mir widerfährt. Ich weine laut vor mich hin, während ich alleine in diesem Loch stecke. Langsam bricht die Nacht herein und es steigert meine Angst noch zusätzlich. Ich bin alleine gefangen in meiner Not und meinem Schmerz, niemand ist da der mich hört und der mir hilft. 

Die Verzweiflung droht mich zu überrollen. Gleich gebe ich auf, ich kämpfe nicht mehr dagegen an. Es versteht mich sowie niemand und keinem geht es so wie mir. Ich bin sooo müde, immer wieder Dinge zu erklären und immer wieder aufzustehen. Vielleicht lasse ich jetzt einfach los, ich bin alleine auf dieser Welt…..

Ich schließe die Augen, fühle das Wasser zieht mich nach unten. Ich lasse mich treiben und bin in meiner Not gefangen. Der Schmerz in meinem Körper ist beißend und stark und es fühlt sich so an, als würde ich zerrissen. 

Doch dann beugt sich ein Schatten über mich und eine Hand zieht mich aus dem Loch. Ich werde wieder auf meine Füße gestellt und mir werden trockene und warme Sachen gereicht. Eine liebevolle Stimme spricht zu mir, mir wird ein Becher mit einem heißen und kraftvollen Getränk gereicht und ich höre tröstende Worte. Ich kann die Worte nicht verstehen, aber ich fühle, ich bin nicht alleine. Die Gestalt umarmt mich, ich fühle mich mit einem Mal getröstet und gehalten. Als ich mich ein wenig erholt habe, reicht mir die Gestalt die Hand und wir gehen schweigend und gemeinsam in einem stillen und guten Einvernehmen weiter. Auf einmal sind wir nicht mehr alleine, hinter uns kommen immer mehr Menschen, die sich uns anschließen. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, ich kenne sie aber. Ich weiß, sie tragen alle ein ähnliches Schicksal wie ich. Es ist nicht gleich, aber es ist ähnlich. Diese Erkenntnis kommt unerwartet und tröstet mich. Jetzt fassen sich alle an den Händen und es ist mit einem Mal eine andere und gute Energie zu spüren. Der Weg, der vor uns liegt, wirkt nun nicht mehr bedrohlich und angstbesetzt. Als ich nach einigen Metern erneut strauchle, hält mich die warme Hand neben mir fest und sicher. Ich bin nicht wieder tief ins Wasser gefallen und das erfüllt mich mit Hoffnung und Zuversicht.  Nach einer langen Strecke, die wir gemeinsam gegangen sind, rutsche ich erneut aus und falle hin. Ich habe mir mein Knie angeschlagen und es schmerzt fürchterlich. Sofort umringen mich mehrere Menschen und helfen mir auf die Beine. Mein Bein wird versorgt und ich erhalte Zuspruch und Aufmerksamkeit. Ich spüre ganz deutlich: ich bin nicht alleine, auch wenn ich in den Gesichtern niemanden erkennen kann.

Irgendwann entfernt sich die Gruppe von mir und ich gehe alleine weiter. Was mir bleibt, ist die Gewissheit, nicht alleine zu sein. Ich fühle mich getragen und gestärkt auf meinem Weg über das Eis. Das Geschehene macht mir keine Angst mehr. So wie eine Schlange ihre Haut ablegen muss, so müssen wir die Vergangenheit hinter uns lassen. Was uns bleibt, ist die Gewissheit, nicht alleine zu sein.